Biografie Mike Wells
Von schrägen Vögeln und durchgeknallten Typen
Foto oben (Privatarchiv): Die „Twilights“ Anno 1965 bestehend aus (von links): Nick Saunders, Bob Gray, Alan Jarman und Mike Wells werden von der legendären Norddeicher Wirtin Meta Rogall begutachtet. Foto unten: Bis auf den heutigen Tag sind Mike Wells (rechts) und Bob Gray freundschaftlich verbunden geblieben.
wj London/Wilhelmshaven/Oldenburg/Norddeich. Als in den 60er Jahren die Beat-Welle von England nach Deutschland rüber schwappte, war er „live“ dabei und gab buchstäblich den Takt an. Mike Wells ist Schlagzeuger und tingelte als solcher einst durch die Clubs in Wilhelmshaven („Big Ben“), Oldenburg („Löwenbräu“), Ostfriesland („Haus Waterkant“/„Meta“) und Bremen („Studio 200“). Seine Erlebnisse aus dieser wilden Zeit hat der britische Musiker in einer äußerst kurzweiligen Autobiografie zusammen gefasst. Sie trägt den Titel „Mike Wells – a 60's Drummer“. Die deutsche Ausgabe ist im Oldenburger Isensee Verlag erschienen.
Vor die Wahl gestellt, ob er einer geregelten Arbeit als Verkäufer nachgehen oder lieber Profi-Musiker werden soll, fällt dem jungen Mike Wells Ende der 50er Jahre die Entscheidung nicht schwer. Die Londoner Club-Szene pulsiert. Ständig werden neue Bands und Musiker gebraucht. Wer gut ist, verdient hier innerhalb einer Woche locker das zwei bis dreifache von dem, was ein schnöder Alltagsjob wie der eines Verkäufers einbringt. Mike Wells, der als eines seiner Vorbild den kürzlich verstorbene Joe Morello („Dave Brubeck Quartett“) nennt, erwirbt sich schnell einen respektablen Ruf. Bald kreuzen sich seine Wege mit aufstrebenden, jedoch damals noch weitgehend unbekannten Talenten wie den „Rolling Stones“, Rod Stewart oder Richie Blackmore („Deep Purple“), mit denen er in London zum Teil auch regelmäßig musiziert. Als Wells sich 1963 ein neues Schlagzeug zulegt und Unterstützung beim Transport braucht, hilft ihm ein rund anderthalb Jahre jüngeren Kollege, der ihn darüber hinaus bei seinem anschließenden Live-Auftritt begeistert beobachtet. Binnen weniger Jahre wird dieser Kollege selber massive Begeisterungsstürme auslösen. Denn es ist Keith Moon, der spätere Kult-Schlagzeuger der Gruppe „The Who“.
Mike Wells ist ebenfalls festes Mitglied in einer eigenen Band. Zusammen mit Bob Gray, Nick Saunders und Alan Jarman bildet er „The Twilights“. Bekannt wird dieses Quartett vor allem als Begleitformation des Sängers Cliff Adams. Man geht sogar ins Aufnahmestudio und spielt eine vielversprechende Version des Soul-Songs „Do you love me“ ein. Nur kriegt die Plattenfirma aus irgendwelchen Gründen keine Single-Veröffentlichung hin. Nachdem die „Tremeloes“ mit ihrer Fassung von „Do you love me“ einen Nummer-1-Hit landen, hat sich die Sache eh erledigt. Cliff Adams wechselt daraufhin die Fronten. Er heuert bei „Beatles“-Impresario Brian Epstein an und wird dann Manager von „Fleetwood Mac“. Unterdessen kann Mike Wells seine rhythmischen Fertigkeiten im Rahmen einer Aufnahme-Session zu „My Boy Lollipop“ eindrucksvoll unter Beweis stellen. Die Nummer avanciert tatsächlich zu einem weltweiten Hit. Doch während andere das große Geld scheffeln, wird der Mann am Schlagzeug mit einem vergleichsweise kargen Hungerlohn von sieben Pfund und zehn Schilling abgespeist. Frustriert beschließt Mike, seine Karriere als Studiomusiker an den Nagel zu hängen, um sich fortan auf Live-Konzerte zu konzentrieren.
Allerdings gestaltet sich das mittlerweile auch nicht mehr so leicht. Der Beat-Boom bringt Tag für Tag frische, hungrige Bands hervor. Bedingt durch den steigenden Konkurrenzdrucks sinken die Gagen, und die Engagements werden stetig kürzer. Für britische Bands ist die deutsche Club-Szene daher eine willkommenen Alternative. Hier haben sie höhere Chancen auf längerfristige Verträge und werden dafür oft besser bezahlt als in ihrer Heimat. Deswegen brauchen die „Twilights“ nicht lange zu überlegen, als sie das Angebot erhalten, im Wilhelmshavener „Big Ben“ aufzutreten. Mike, Bob, Alan und Nick machen sich mitsamt ihren Instrumenten in einem „Ford Thames“ Lieferwagenwagen auf den Weg nach Deutschland. Das erste Hindernis erwartet sie bereits kurz nach Verlassen der Fähre in Holland. Die Grenzbeamten verlangen einen schriftlichen Nachweis für den Auftritt in Deutschland. Weil das Quartett den nicht hat, muss es die Nacht in einer Gefängniszelle verbringen. Zum Glück kann die Situation am nächsten Tag nach einigen Telefonate hinreichend geklärt werden. Auf den letzten Drücker erreichen die „Twilights“ am 1. Dezember 1964 Wilhelmshaven und feiern am selben Abend ihre Deutschland-Premiere.
Das Programm besteht hauptsächlich aus nachgespielten Cover-Versionen damals angesagter Rock'n'Roll-, Beat-, und Instrumental-Nummern von Chuck Berry, den „Beatles“, „Rolling Stones“, „Shadows“ und dergleichen. Im Gegensatz zu deutschen Gruppen, die sich inzwischen ebenfalls verstärkt an solchem Repertoire versuchen, denen aber oft allein die englische Aussprache gehörige Probleme bereitet, klingen die Briten wesentlich authentischer. Zudem sind sie den meisten deutschen Musikern technisch meilenweit überlegen. So gesehen verwundert es nicht, dass die „Twilights“ von Beginn an exzellent beim Wilhelmshavener Publikum ankommen und ihr Vertrag im „Big Ben“ prompt um einen Monat verlängert wird. Indes geschieht letzteres nicht ganz freiwillig. Eigentlich hätten die „Twilights“ über Silvester einen Auftritt in England bestreiten sollen. Das schaffen sie nicht, weil der Motor ihres Lieferwagens streikt und nicht rechtzeitig repariert werden kann. Wie sich herausstellt, hat jemand in den Tank gepinkelt und Zucker hineingeschüttet. Ob der Übeltäter ein Neider gewesen ist oder vielleicht der Club-Besitzer, der den Weggang der Band in seinem Sinne ein bisschen hinauszögern möchte, das überlässt Mike Wells den Spekulationen des Lesers. Jedenfalls sitzen die „Twilights“ nun erst recht in Deutschland fest. Da sie in Wilhelmshaven keine dauerhafte Perspektive sehen, nehmen sie für den März 1965 ein Engagement im Oldenburger „Löwenbräu“ an. Das ist lediglich von kurzer Dauer und Mike Wells ohnehin nicht in sonderlich guter Erinnerung. Er handelt sich einen kapitalen Tripper ein und wird obendrein vom behandelnden Arzt dazu genötigt, laut aus erotische Briefen vorzulesen. Wenigstens erspart ihm das die Bezahlung der Arztrechnung.
Noch im März 1965 geht es für die „Twilights“ ins „Haus Waterkant“ nach Norddeich. Zunächst scheint der direkt an der ostfriesischen Nordseeküste gelegene Laden ein totaler Fehlgriff zu sein. Wie und warum sich jemand in diese Einöde verirren sollte, um eine englische Band zu sehen, dafür fehlt Mike und seine Jungens anfänglich jegliche Vorstellungskraft. Schon am ersten Abend werden ihre Bedenken restlos zerstreut. Die Bude ist dermaßen rappelvoll, dass etliche Gäste draußen vor der Tür bleiben und trotzdem hellauf begeistert sind. Auch „Waterkant“-Chefin Meta Rogall weiß die Qualitäten der „Twilights“ wohl zu schätzen und holt sie im Verlaufe des Jahres 1965 mehrfach nach Ostfriesland zurück. Norddeich wird für die Briten zu einer zweiten Heimat. Das Quartett genießt die heimelig-familiäre und gleichzeitig überraschend aufgeschlossene Atmosphäre. Die vermeintlichen Provinzler sind hinsichtlich aktueller Trends erstaunlich gut auf dem Laufenden. Das kommt nicht von ungefähr. Piratensender wie „Radio Caroline“ oder „Radio London“, wo praktisch rund um die Uhr die neuesten „heißen Scheiben“ rotieren, sind an der ostfriesischen Nordseeküste prima zu empfangen. Manchen Hit kennen die „Twilights“ bereits in- und auswendig, lange bevor er als Platte auf dem deutschen Markt erschienen ist. Vieles davon bauen sie so geschickt in ihr Repertoire ein, dass nach außen hin bisweilen der Eindruck entsteht, einige der Cover-Versionen wären in Wirklichkeit Eingenkompositionen der „Twilights“.
Damals wie heute gehört Klappern gerade in der Unterhaltungsbranche eben zum Handwerk. In Wiesbaden werden die „Twilights“ auf dem Plakat kurzerhand als „Spitzenband aus Liverpool“ angekündigt. Von dort kommen ja unter anderem auch die „Beatles“ her. Wen interessiert da noch, dass London die Hauptstadt von England ist? Während solche Ausfälle noch zu denen der eher harmloseren Kategorie zählen, haben andere mindestens das Prädikat „total durchgeknallt“ verdient. Beispielsweise meint ein Club-Besitzer, seine Musiker grundsätzlich mit Gaspistolen bewaffnen zu müssen, um im Falle einer Schlägerei zu verhindern, dass sie ihre Hände verletzen und womöglich arbeitsunfähig werden. Gleichermaßen haarsträubend klingt die Begründung eines Messerwerfers, dessen Show Mike Wells zwischenzeitlich am Schlagzeug begleitet, auf die Frage, ob sein Alkoholproblem für seine Partnerin an der Zielscheibe nicht gefährlich werden könnte. „Im Gegenteil“, antwortet der. „Sie wäre schon tot, wenn ich nicht trinken würde.“
Solche und ähnliche schrägen Vögel vor und hinter den Kulissen tauchen in dem Buch von Mike Wells immer wieder auf. Sich selber zählt der Brite ausdrücklich dazu. Denn er ist ebenfalls „kein Kind von Traurigkeit“, wie er an einer Stelle ehrlich zugibt. Folgerichtig spart er auch eine Reihe intimer Begegnungen mit Frauen nicht aus und schildert sie in gebührender Ausführlichkeit und mit pikanter Detailtreue. Nichtsdestotrotz bewegen sich diese Sex-Passagen völlig im Rahmen des Erträglichen, zumal sie, wie überhaupt die Mehrzahl der Anekdoten in dem Buch, häufig mit einer liebevollen Prise (Selbst-)Ironie anklingen.
1966, nachdem sich die „Twilights“ aufgelöst haben, gesellen sich Mike Wells und Bob Gray zu einer deutsch-englischen Formation namens „Class 4“. Deren Findungsphase und erste Proben gehen im Norddeicher „Haus Waterkant“ über die Bühne. Bald darauf erhalten sie ein Engagement im Bremer „Studio 200“ auf. Wie der Zufall es will, spielt der Sohn des Club-Besitzers in einer eigenen Band. Die nenne sich „Die Germans“ und fragen Mike, ob er bei ihnen als Schlagzeuger mitmachen möchte. Der willigt ein und kehrt „Class 4“ den Rücken. Bereits im Juli 1966 prangt das Konterfei des Briten auf der Autogrammkarte der „Germans“. Diese Autogrammkarte ist in dem Buch ebenso abgebildet wie eine Reihe weiterer historischer Schwarz-Weiß-Fotos, die den nostalgischen Charakter des Buches wirkungsvoll unterstreichen und insgesamt perfekt abrunden. Was nach seinem Einstieg bei den „Germans“ passiert, lässt Mike Wells offen. Allerdings deutet die Anmerkung „Fortsetzung folgt“ darauf hin, dass er noch jede Menge Geschichten und Anekdoten auf Lager hat, die er einer interessierten Leserschaft sicher nicht vorenthalten möchte.